Eltern-Kind-Entfremdung oder Abwendung?
Der Unterschied spielt eine wesentliche Rolle bei der Arbeit mit entfremdeten Eltern.
Wenn Eltern und Kinder sich nach Scheidung und Trennung nicht mehr sehen, die Kinder den Umgang verweigern oder sich dem Kontakt widersetzen, ist dies nicht nur für den betroffenen Elternteil extrem schmerzhaft, sondern auch für das Kind und alle Familienangehörigen schädlich.
Oft werden von allen Beteiligten auf der Suche nach den Gründen hierfür Vorwürfe erhoben und Schuld zugesprochen, die in vielen Fällen allerdings den Kontaktabbruch und die Verweigerungshaltung nicht zu rechtfertigen mag. Dann spricht man oft von Eltern-Kind-Entfremdung und allen damit einhergehenden recht kontrovers diskutierten Thesen. Leider führt diese Diskussion in der Regel nicht zu einer Auflösung des Konfliktes, sondern verhärtet diesen auf nachhaltige und leider auch oft irreversible Weise.
Aus diesem Grund bitte ich bereits im ersten Telefongespräch mit meinen Klienten immer wieder darum, egal welche Thesen sie selber bisher vertreten haben, zukünftig vorerst von “ungeklärter Umgangsverweigerung” zu sprechen. Dies ermöglicht nicht nur eine Besänftigung des Konfliktes, da keine “Schuldzuschreibung” mehr stattfindet, sondern ermöglicht die Suche nach konkreten Hintergründen und Lösungen und lenkt den Fokus auf die Herausforderung: die Umgangsverweigerung des Kindes.
“There was agreement that when all four factors are present the case is alienation and when one or no factor are present it is not alienation.”
Dr. Amy Baker
Es ist allerdings in der Tat wichtig, dass nicht nur betroffene Eltern, sondern auch alle beteiligten Helfer einen klaren Unterschied zwischen Entfremdung und einer vergangenen Ereignissen geschuldeter Abwendung des Kindes von einem Elternteil machen.
Der Grund hierfür ist allerdings nicht, es dem betroffenen Elternteil als “Schuld” und damit “Versagen” vorzuhalten. Ich gehe meist davon aus, dass BEIDE Eltern in den aller meisten Fällen Anteil an der Abwendung des Kindes tragen. Es ist jedoch insofern wichtig zu wissen, ob es sich um Entfremdung oder um Abwendung handelt, als da es den Weg und die Lösungen aus dem Konflikt bestimmt.
Ein Kind, das sich wegen erzieherischen, emotionalen oder auch sozialen “Fehlverhaltens” durch den abgelehnten Elternteil von diesem abwendet, muss in der Annäherung an diesen Elternteil völlig anders begleitet und geleitet werden, als ein Kind, dass durch bewusste oder unbewusste sogenannte “Entfremdungs-Strategien” eines Elternteils von dem anderen Elternteil entfremdet wurde. Auch die Zusammenarbeit mit den und die Zusammenführung der betroffenen Eltern muss konkret hierauf angepasst werden.
Ein von ungeklärter Umgangsverweigerung betroffer Elternteil, sollte im ersten Schritt mit qualifizierter und konstruktiv-professioneller Unterstützung klären, ob es sich um Entfremdung, oder aber um Abwendung handelt, um dann das eigene weitere Vorgehen zur Wiedervereinigung mit dem Kind darauf abzustimmen und dann auch möglich zu machen.
Man spricht nur dann von Eltern-Kind-Entfremdung, wenn die folgenden 4 Faktoren (abhängig voneinander) erfüllt sind:
- Eine ursprünglich intakte und positive Beziehung zwischen Kind und entfremdetem Elternteil. (Das Kind hat eine liebevolle und zugewandte “normale” Eltern-Kind- Beziehung zum abgelehnten Elternteil geführt.
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Das Fehlen von Misshandlung, Vernachlässigung oder Missbrauch durch den abgelehnten Elternteil. (Manchmal können Eltern während Scheidung und Trennung nicht auf adäquate Erziehungsstrategien zurück greifen, ziehen sich in dieser Zeit vielleicht sogar von den eigenen Kindern zurück und scheinen “nicht verfügbar”, oder wenden sich in dieser Phase “einem neuen Leben zu”. Kinder und insbesondere Jugendliche reagieren oft mit Abwendung auf elterliches “Fehlverhalten”. Für das Vorhandensein von Eltern-Kind-Entfremdung muss dies ausgeschlossen sein. Ansonsten handelt es sich um eine sogenannte “Abwendung” und muss anders behandelt werden.)
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Die Verwendung von sogenannten “Entfremdung-Strategien” (17 primäre Strategien von hier festgelegt) durch den entfremdenden Elternteil. (Mindestens einige der 17 Strategien müssen nachweislich durch den entfremdenden Elternteil bewusst oder unbewusst über einen längeren Zeitraum – mindestens 9 Monate – angewandt werden.)
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Das Kind zeigt die 8 typischen Merkmale eines entfremdeten Kindes. (Diese Merkmale sieht man ausschließlich bei entfremdeten Kindern. Kinder die Missbrauch, Vernachlässigung oder Misshandlungen durch einen Elternteil erfahren haben zeigen sie nicht. Darunter zählt man beispielsweise das völlige Fehlen von Empathie sowie keinerlei Mitgefühl für den entfremdeten Elternteil oder Bedauern über den Beziehungsverlust, im Gegenteil zeigt das Kind dem betroffenen Elternteil gegenüber eine Haltung von hochmütiger Arroganz und Überlegenheit.
Andernfalls kann man von einer – vermutlich in Teilen gerechtfertigten – Abwendung des Kindes vom abgelehnten Elternteil ausgehen. Dies ist wichtig für das Vorgehen des Elternteils und sowohl Helfersystem als auch betroffener Elternteil sollten die Wiederanbahnung der Beziehung speziell hierauf abstimmen. Ein Kind, das den Kontakt wegen “Fehlverhaltens” des abgelehnten Elternteils ablehnt, würde im schlimmsten Fall durch ein Vorgehen, das bei Eltern-Kind-Entfremdung angezeigt wäre, re-traumatisiert werden und sich im besten Fall nicht ernstgenommen und gehört fühlen.
Dies gilt es für alle Elternteile zu bedenken, wenn sie in Zusammenarbeit mit Helfern, Gerichten und Institutionen immer wieder mit kritischen Fragen konfrontiert werden. Eine Haltung der kompletter Transparenz und Offenheit im Sinne des Kindes wird den Prozess für alle Beteiligten konstruktiv beschleunigen und verbessern. Jeder macht mal Fehler. Jeder ist mal überfordert. Jeder von uns hat schon Dinge gesagt oder getan, die aus heutiger Sicht lieber ungesagt und ungetan wären. Wichtig ist zu erkennen, ob diese zu der Dynamik der Umgangsverweigerung beigetragen haben könnten und wie man zu einer Lösung im Sinne aller Beteiligter kommt.
Carolyn Steen – Psychologische Lebensberatung, Coaching, Krisenintervention, Trennungs- und Scheidungsberatung – Im Mittelpunkt des Lebens